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WUNDEN UND NICHTWUNDEN

Karl Edward Johnson

Sein bedeutet im Wesentlichen Wahrnehmen. Die Tatsache, dass der eine sein Leben als ein kostbares Geschenk betrachtet, während der andere es als höchst schmerzvoll empfindet, zeigt, wie unterschiedlich unsere Wahrnehmung der Dinge sein kann. Dennoch ist das, was der eine begrüßt und der andere ablehnt, immer ein Konglomerat aus Objekten, Räumen, Eindrücken und Situationen, die gleichzeitig in einem realitätsgenerierenden Miteinander existieren, das in seiner Unermesslichkeit unbegreiflich erscheint. Das Wort „unbegreiflich“ ist hier entscheidend. Obwohl unsere Existenz für uns selbst von einzigartiger Bedeutung ist, ist sie doch ein Phänomen, das so vielfältig interpretierbar, so verwirrend und letztlich unbegreiflich ist wie kein anderes.

Die Redensart „die Zeit heilt alle Wunden“ erscheint als eine Art Handhabe für den Umgang mit dem Unbegreiflichen. Sie erinnert uns an das halbherzige Mitgefühl, das dem Trauernden entgegengebracht wird. Gleichzeitig lässt sie uns an Klischees, Schlager und religiöse Eingebungen denken. Sogar Menschen, die diese Redensart ursprünglich für Unsinn hielten, können ihr mitunter doch etwas abgewinnen. Sind sie zunächst überzeugt, dass die Zeit niemals Wunden heilen kann, verlieren sie doch im Laufe der Zeit das Gespür für die Grenzen ihres Schmerzes. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob der Schmerz durch einen Verlust, Grausamkeit oder plötzliche Schicksalsschläge ausgelöst wurde. Auf jeden Fall löst sich der quasi „unverortbare“ Schmerz in dem Maße von dem Leidenden, in dem die Grenzen des Schmerzes im Laufe der Zeit verschwommener und schwerer lokalisierbar werden.

Da derjenige, der in die Heilkraft der Zeit vertraut ebenso von dieser Ablösung profitiert wie derjenige, der es nicht tut, könnte man fast sagen, dass das, was Menschen voneinander unterscheidet manchmal gerade das sein kann, was sie miteinander verbindet. So wäre die Redensart eigentlich treffender, wenn ein Begriff ausgetauscht würde: “Die Zeit verbindet alle Wunden.“ Im Bereich der Kunst bedeutet „Zeit verbindet alle Wunden“ ein fantastisches Ganzes, das unser alltägliches Leben durch die Metaebenen der Wissenschaft, der Geschichte und der Psychologie zu bereichern imstande ist. Das ist natürlich leicht gesagt, aber weniger leicht vorstellbar.

Es gibt Bilder, die in ihrer Deutbarkeit einem Eins-zu-Eins-Prinzip entsprechen, andere entziehen sich der konventionellen Bildschöpfung dadurch, dass sie prinzipiell nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Dabei ist der letztgenannte Bildtypus ist nicht schwerer greifbar als sein beflissener Konkurrent. Er verlangt nur mehr vom Betrachter. Zum Beispiel, dass das Auge das Bild liest wie eine Partitur oder ein Buch. In Mendings, James Higginsons Serie fotografierter Birnen, verweisen die Bilder auf die Heilung und Verbindung von Wunden. Sie scheinen den Betrachter dazu aufzufordern, das Sichtbare durch Kalkulationen zu erschließen, da die Serie auch als Metapher funktioniert und die Birne in dieser Situation mehr als eine Birne ist.


Fotografien, auf denen Essbares mit allem anderen als dem Vorgang des Essens konnotiert ist, sind nicht selten. Hierbei wäre an den sich durch seine Originalität aus der Kunstgeschichte abhebenden deutschen Maler-Fotografen Wols (eine Abkürzung für Wolfgang Schulze) zu denken, der entscheidend zu dem beigetragen hat, was heute als moderne „Lebensmittelkunst“ gilt. Sein Leben und seine Kunst wurden durch zwei Umstände vehement erschüttert: die Zeit der Inhaftierung in französischen Konzentrationslagern im Zweiten Weltkrieg und seine qualvolle Alkoholabhängigkeit.

In Finger und Nicht-Finger, Sartres einfühlsamem Essay über Wols, wird das Werk des Maler-Fotografen als symbolbesessene Kunst beschrieben, deren Impulse dem Werk Paul Klees entstammen, eben jenes Malers, der sagte „Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter die Kunst“. Sartre vertritt auch die Ansicht, dass auf Wols schwarzweißen Stillleben aus essbaren Dingen das penibel inszenierte fotografische Bild oft als eine Darstellung des Fotografen selbst gemeint ist – als ein seltsames, anrührendes und zugleich unberührbares „Anderes“, das für die Kamera arrangiert wurde. Überraschenderweise werden hier Lebensmittel in eine Art Versuchsanordnung gebracht. Wols schafft aus ihnen gewissermaßen Meisterwerke der Sezierung und des Arrangements. So können Eingeweide am Ständer eines Fotoscheinwerfers herabhängen, der enthäutete Kopf eines Kaninchens wie ein Juwel aus der Mitte des Bildes hervorscheinen oder Fleiscstücke in Form von Pantoffeltierchen das Paisleymuster der Tischdecke, auf der sie liegen, reflektieren.

Im Vergleich dazu lassen die visuellen Ankerpunkte in Higginsons Arbeiten mehr entstehen als lediglich eine Serie von fesselnden Studien. Zwar wird auch hier das „Andere“ mittels eines bestimmten Objektes beschrieben. Darüber hinaus wird jedoch das fotografische Moment des Stillstandes (ein repräsentativer Zustand einer durch den Künstler und das Objekt geformten „Einheit“) in einen empathischen Blick (eine beabsichtigte, post-postmoderne Verschmelzung von Künstler und Objekt) überführt. Indem die Distanz zwischen Künstler und Objekt aufgehoben wird, verhindert dieser empathische Blick, dass unsere Wahrnehmung durch den statischen Moment festgelegt wird. Die Serie Mendings ermöglicht es dem Fotografen darüber hinaus, höchst konzeptuell zu arbeiten, indem er der doppelschichtigen Vorstellung von Künstler und Objekt als einander durchdringende und sich anverwandelnde Systeme Rechung trägt.

Die Seriensequenz lässt uns darüber im Unklaren, ob wir es mit einer vorwärts oder rückwärts ablaufenden Zeitfolge zu tun haben. Dabei sehen wir ganze und geteilte Birnen und Birnen, die sich sozusagen „in Reparatur“ befinden. Die gezeigten Früchte fungieren als Darstellung verschiedener „Daseinszustände“, natürlicher menschlicher Befindlichkeiten. Was wir aber eigentlich sehen, ist der unlogische Akt des Flickens ohne einen Menschen. Indem man eine Frucht zusammennäht, kann man niemals ihre Frische oder Unversehrtheit zusammenflicken. Es entsteht lediglich eine mal ganze, mal zerteilte Birne; eine Birne, die vielleicht von einem von Bosch gemalten Baum gefallen ist oder eine Birne, die mit ihrer eigenen Ganzheit im Widerstreit liegt. Abgründiger betrachtet, ist es eine Art Frankensteinscher Birne – eine zusammengesetzte Einheit, die aus verschiedenen lebenden oder ehemals lebenden Teilen komponiert wurde.


Der Zugang zu dieser Art von Fotografie wird durch das Bewusstmachen der ihr innewohnenden Matrix erleichtert. Ein Bild ist kaum je lediglich ein Bild. Meist dient es als Schablone für Bilder und Ideen, die nicht unmittelbar im Bildraum erscheinen. Anders formuliert, ist diese Art der Fotografie ein Analogiegenerator – sie versorgt das Auge mit dem Material, das es zur Konstruktion und Berechnung der Bedeutung der ihr eigenen Bildersprache benötigt und das es darüber hinaus befähigt, sie mit der Bildersprache anderer Fotografien und verknüpfter Gegenstände zu vergleichen.

Die Tragödie des 11. 9. inspirierte Higginson zu Mendings. Dadurch entstehen einerseits unmittelbare Verknüpfungen mit Aspekten der menschlichen Natur sowie dem Prozess des Flickens und/oder der Regeneration. Andererseits erzeugt das Prinzip des Flickens als ein Prinzip der „Selbstverteidigung und Verbindung“ Verknüpfungen mit unserer Wahrnehmung von menschlichen Konflikten, Schmerz und der Vorstellung des Wiederauffindens schmerzlich auseinandergerissener Teile unserer Seele, die in einer spirituellen Ganzheit wieder zusammengefügt werden sollen. Diese beiden Faktoren ermöglichen dem Betrachter den Zugang zu artverwandten Beispielen (Arbeiten) außerhalb des künstlerischen Kontextes bzw. in anderen Medien. Man muss sie nur erkennen und verbinden.

Joan Didions „Das Jahr magischen Denkens“, ein 2005 entstandenes Buch, das sich im Wesentlichen auf den Tod eines einzigen Menschen konzentriert, ist nur eines der vielen literarischen Beispiele, auf die man in diesem Zusammenhang kommen könnte. Betrachtet man Didions klarsichtige Studie des Schmerzes und der Fassungslosigkeit, die durch den Verlust ihres plötzlich an Herzstillstand gestorbenen Mannes ausgelöst wurden, im Zusammenhang mit Mendings, so stellt man fest, dass sie ebenso viel emotionalen Sprengstoff enthält wie 9/11 – eine eher öffentliche als private Tragödie, der jedoch auch ein Verwandter Higginsons zum Opfer fiel. In Didions Buch formen sich Schock, Trauer und Schmerz zu einer Ode an die Orientierungslosigkeit der Erzählerin. Im Verlauf beginnt diese Ode jedoch auch Antworten zu geben und unterstreicht die neuentstehenden Beziehungen zu anderen, zu den Lebenden und der Fähigkeit, das Leben zu meistern. Die Beziehungen zu den Toten, zu ihrem Mann und den lähmenden Erinnerungen treten hierbei mehr und mehr zurück.

Indem uns die Erzählerin durch das Labyrinth ihres sich stetig verändernden Denkens führt, befragt sie „was ist“ und „was war“. Dabei wird die Wahrnehmung des Daseins vor und nach dem Tod ihres Mannes untersucht. Bei dem Versuch während ihres „magischen Jahrs“ die ihr abhanden gekommenen vorgeprägten Vorstellungen „von der Oberflächlichkeit des Verstandesdenkens, vom Leben selbst“ wieder mit Sinn zu füllen, stellt sie sich selbst wieder her und wird durch diesen Trauerbericht vielleicht spirituell auf ganz neue Wege geleitet, wobei das Schreiben den Heilungsprozess noch potenziert.

Obwohl Higginson’s Serie über den künstlerischen Kontext hinausweist und einen Lebens- und Heilungsprozess impliziert, treffen wir hier weder auf die klassische Ausformung des rein Konzeptuellen noch auf den Versuch, einem Gegenstand eine Stimme zu verleihen, der keine eigene Sprache zu haben scheint. Stattdessen sehen wir eine „Performance fürs Auge“, die teilweise dadurch geschaffen wird, dass die Abwesenheit eines menschlichen Aspektes im Bild sich gleichzeitig auf eben diesen bezieht.

Im Kern verbildlicht Mendings ein philosophisches Konzept, indem es ein symbolisches Verwunden und Flicken unserer menschlichen Fähigkeit, Unversehrtheit und Hoffnung zu generieren, ausstellt. Higginsons Logik zufolge ist Hoffnung eindeutig die Vorraussetzung für Freiheit und daher unerlässlich. Gleichzeitig haben die visuellen Eigenschaften der Serie einen eher soziopolitischen als künstlerischen Effekt: indem sie zeigen, wie Menschen leben und leben sollten, als Individuen oder in Gemeinschaft, zeigen sie auch, wie Menschen sich selbst in einer realen oder imaginierten Struktur wahrnehmen.