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SPIEGELKABINETT

Jeanne S.M. Willette

Wir wachsen alle gestört auf. Aber im Zeitalter des Ultra-Coolen…. na und?

Wir erleben eine Ära der Dunkelheit und Stille. In einer Zeit der Zensur und des Verschweigens wagt es ein Künstler, James Higginson, sowohl zu reden, als auch Licht in die unsichtbaren Ecken des Familienlebens zu werfen. Den Mythos der „Familienwerte“ abstreifend, inszeniert Higginson ein Drama über das, was getan wird, aber nie gesehen und auch selten erzählt wird. Seine visuelle Theatralik stellt die dunkle und verborgene Seite der menschlichen Beziehungen in ein erbarmungsloses Rampenlicht. Higginsons Fotos zeigen uns, wie wir unseren Zorn von uns selbst auf die anderen, auf unsere Kinder ableiten. Higginson bemächtigt sich der Glaubwürdigkeit der dokumentarischen Fotografie und ihres Kronjuwels, des Foto-Essays, und dabei gewinnt er die Erinnerungen wieder, die den privaten Kettfaden zum öffentlichen Schussfaden des Familienstoffes bilden.

Wir sind völlig gebeugt und verdreht in die Familienmerkmale verwickelt, unsere Seelen sind verzerrt, unsere Köpfe sind verformt, unsere Herzen zu Knoten verschlossen. Higginson nimmt das Familienleben als Metapher für das Leben einer Kultur, die uns gezwungen hat, das Inakzeptable im Namen einer nationalen Einheit zu akzeptieren. Wir hören Predigten und Vorträge und werden aufgefordert, uns in einen unerträglichen Doppelzwang /eine doppelte Blindheit hineinzupressen. Genau wie es uns als Kind gesagt wurde, dass wir die Familiengeheimnisse nicht preisgeben dürften, wird uns nun als Volk nahe gelegt, eine eingehende Selbstprüfung sei „unpatriotisch“. James Higginsons Familienfotos sind mehr als nur „Kunstwerke“, sie sind moralische Heldentaten, schmerzvoll anzuschauen, denn sie sind selbst voller Schmerz.

Jedes Bild steht für sich in einem blendenden Lichtkegel der Enthüllung, jede Episode ist eine Vignette, eine Belohnung für den Betrachter, dem etwas gewahr wird, was die Gesellschaft sonst lieber verdeckt hält: Das Zuhause ist nicht immer da, wo das Herz ist, und ein goldenes Schweigen herrscht über dem Missbrauch. Higginson arbeitet mit Schauspielern, die echte Menschen spielen und mit echten Menschen, die sich als Schauspieler ausgeben. Dabei dreht und wendet er die Lügen des Alltags und bietet profane Zeugnisse dessen, was keiner aussprechen mag, wir bringen uns selbst und den anderen um. Die Orte der Kunst sind zu einem Spiegelkabinett der schlimmsten Sorte geworden, denn diese Spiegel verzerren nicht, sie sprechen nur die Wahrheit.

Wie ein Regisseur agierend, inszeniert Higginson theatralische und filmische Sequenzen des Familiendramas und des Missbrauchs, die über die Maßen ehrlich und erschreckend sind. Seine Sequenzen führen den Betrachter sprunghaft zu einem derart bekannten Ort, dass wir nicht mehr in der Lage sind, hinzuschauen. Der Betrachter erhascht nur episodenhafte Einblicke, denn Higginson geht an den Rand dessen, was wir ertragen können. Aber wir sind keine Voyeure, die in das Leben der anderen hineinschauen wollen. Wir schauen, und das ist viel schlimmer, nur auf uns selbst.

Wir haben uns immer von dem abgewendet, was uns missfällt.

Die Arbeiten von James Higginson suggerieren, dass äußerliche Gewalt wie das Lynchen oder die imperialistische Eroberung akzeptiert, die innerliche Gewalt aber geheim gehalten wird, d.h. bis vor kurzem. Heute reden wir von häuslichem Missbrauch, aber bedächtig, während wir uns gegenseitig das Herz ausreißen. Wir geben uns gerne so, als würden die Schrecken nur anderswo stattfinden, am Rande einer verfallenden Gesellschaft. Währenddessen zielen wir aber unter die Gürtellinie, auf die Halsader, auf das Herz. „Sie“ bejammern den moralischen Verfall, sehen sich jedoch selber dabei gar nicht an. Sie beklagen die Gewalt in den Medien, schauen aber nie in das Haus, wo Kinder im Dunkeln wach liegen und dabei den schreienden Eltern zuhören.

Die Angst des Kindes, das in einem solchen Spiegelkabinett des nie eingeräumten, aber wohl erfahrenen Schreckens lebt, spiegelt die Aktivitäten der breiteren Kultur, Unruhen, Kleinkriege, Smart-, Auto- oder Menschenbomben, wiederholter Rassenmord, Vergewaltigung als ethnische Säuberung, Abtreibung als Selektion des Geschlechts, Mord als Martyrium und Mord als Religion. Wie das Kind, dem gesagt wird, dass die Eltern „immer recht“ haben, wird jeder Nation beigebracht, dem Land „im Recht oder Unrecht“ beizustehen. Macht und Dominanz töten. Denken Sie so: Diejenigen, die hinter dem Spiegel stehen, können behaupten, auf der Seite des „Guten“ zu stehen, denn sie sind durch das Stanniol geblendet, sie (wir) können nicht sehen, was sie (wir) getan haben. Wir schauen lieber auf den schwarzen Rücken des Spiegels, da wir Angst haben, uns selbst in die Augen zu sehen.

Der Künstler kann nie derjenige sein, der seiner Kultur einen Spiegel entgegen hält. Keiner würde solch ein Porträt kaufen, denn Kunstwerke besitzen ja schließlich auch Warencharakter. Wie die Werke von Manet und Golub bezeugen, muss der Künstler das Soziale neu konfigurieren, um eine Szene vom Porträt zur Vision zu verwandeln, nur so wird der Voyeur in uns allen geweckt. Die Kunstwelt setzt auf diese soziale Heuchelei, indem sie erzählt, der Künstler sei „der Spiegel der Gesellschaft“. Aber die Kunstwelt stellt ungern das aus, was in diesem Spiegel erscheint. Viele mahnende und kritische künstlerische Dokumente der Gewalt wurden jahrzehntelang versteckt, Goyas „Die Schrecken des Krieges” und „Die Freiheit führt das Volk an” von Delacroix – ihre Macht wurde zu sehr gefürchtet. Higginson steht einer langen Geschichte der Kunstzensur gegenüber und geht das Risiko ein, von der Öffentlichkeit nur Zorn und Missverständnis zu ernten. Aber sollte uns die Geschichte etwas klar gemacht haben, dann ist das wohl die Notwendigkeit der Selbstbetrachtung.

Die von Higginson produzierten Spiegel teilen uns mit, dass wir ein gewaltsames Volk sind, aber wer bringt uns diese Gewalt bei?

Waren wir immer so gewalttätig, oder reden wir einfach jetzt mehr darüber? Keimt die Gewalt, wenn wir kleine Jungen in ihren Kriegsspielen ermutigen, damit ihre Väter sie später zu staatlich unterstützten „Polizeiaktionen“ schicken können? Lassen wir weiterhin Gewalt gegen Frauen zu, damit die männliche Kontrolle über unsere Gesellschaft nicht bedroht wird? Schwächen wir etwa den Mord als „Kindermord“ ab, wenn ein Kind getötet wird, um die elterliche Gewalt nicht zu gefährden? Higginson setzt die Fotografie ein, um die Haut der Gesellschaft zu geißeln: Er zwingt uns zu einer Betrachtung der Gleichgültigkeit und des Unterschieds zwischen staatlich verordneter Gewalt und einer Gewalt, die den Familienwert der elterlichen Hierarchie gutheißt.

Wir legen die Fotoapparate beiseite und schalten die Videokameras aus, wenn Familienstreit ausbricht. Würden Sie Gewalt unter Ehepartnern für das Familienalbum festhalten? Würden Sie ein Bild der Kindesmisshandlung knipsen, um es den Großeltern zu schicken? Warum üben wir bei unseren eigenen Geschichten eine Zensur aus? Was sind das für Umgangsformen, die das Dokumentieren dieser „Geschichte“ verbieten? Missbrauch findet statt, weil keiner ihn aufzeichnet. Die Autorität betreibt ihn weiterhin, da keiner diese Autorität in Frage stellt. Higginson muss mit wenigen visuellen Präzedenzfällen arbeiten: Die Ausnahmen bilden seltene aktuelle Phänomene, wie das Verprügeln Rodney Kings durch die Sicherheits-kräfte und der Misshandlung irakischer Gefangener in den Händen der amerikanischen Friedenstruppen.

Higginsons Stoff sind verbale Erzählungen, fragmentarische Erinnerungen und wiederkehrende Alpträume. Das Ergebnis kann ja nur realer sein als die Realität selbst, denn er stellt das nie Dargestellte nur (wieder) dar. Higginson zwingt uns, das künstlich geschaffene Reale gebannt anzustarren, um in unseren höchsteigenen Horrorfilm hineinzuschauen: Es sind unsere eigenen Filmerinnerungen, und der Schmerz eines Wiedersehens wäre zu groß, würden wir ihnen nicht als bizarre (Nicht-)Fiktion begegnen. Jedem Künstler, der so unbedacht war, von der Gesellschaft verlassene Orte zu besuchen, von Manet zu Golub, wurde mit beharrlichem öffentlichen Widerstand begegnet.Manets Werdegang basierte auf seinen Ausflügen in die Unterwelt der demi-mondaine. Und schon früh in seiner Karriere besuchte er einen anderen Ort der Verschleppten: den „Unort“ von Paris, banlieu genannt.

Manet malte diese durch die Modernisierung der Stadt erzeugte Randgegend von Paris, wo die sozialen Außenseiter wie Schatten in der Hölle eines antiken Griechenlands umherwandern durften. Er stellte die Bilder der herzlosen Bourgeoisie aus, sie aber schaute weg. Häusliche Gewalt ist zur banlieu der zeitgenössischen Gesellschaft geworden, einem Zustand, dem wir uns nur stellen, wenn die Einwohner dieses gefährlichen Ortes sich ins öffentliche Leben verlaufen. Die Gesellschaft hat immer die Stätten verborgen gehalten, wo die Vertriebenen leben durften. Die Familie ist ein solcher Ort gewesen, das Kloster war die eine Zuflucht, die zweite das Militär.

Hundert Jahre nachdem Manet die Geschichte seiner Zeit zu malen versuchte, nahm Leon Golub die Aufgabe wieder auf und malte die von Historikern geflissentlich übersehenen Lücken. Wenn die Standard-definition von „Geschichte“ Krieg lautet, was passiert hinterher? Frieden ist es gewiss nicht. Der Nachklang des Krieges sind Ziffern: Millionen von Männern, denen ihre Regierung das Töten beibrachte. Mit dunklem Herzen werden sie in eine Welt entlassen, die sie nur bedingt und für eine begrenzte Zeit gebrauchen konnte.

Um die Geschichte seiner Zeit zu erzählen, spürte Golub ihre Wege auf. Durch den Geschmack der allmächtigen Gewalt angefeuert, wurde die Mannhaftigkeit problemlos weitergereicht vom Soldaten zum Terroristen, vom Retter zum Folterer. Söldner gedeihen zu Kriegszeiten und können sich als „Ausleihsoldaten“, als Kämpfer ohne jegliches Gewissen, frei bewegen. Sie werden in eine Kultur der käuflichen Gewalt aufgesogen. Golub versetzt diese verlorenen Seelen auf die Seiten von Zeitschriften und Zeitungen und kehrt das Format des Foto-Essays um, um eine andere Wahrheit zu erzählen: Krieg ist überall. Heute nennen wir diese wurzel- und staatenlosen Soldaten des Schicksals „private contractors,” sie stehen unter der Kontrolle von Niemandem. Wir können nur vermuten, dass die Kriegshunde hier ganz bewusst von der Leine gelassen werden.

Die Kunst James Higginsons wirft eine alte Frage mit wachsender Dringlichkeit erneut auf: Wer wird die Historienmalerei unserer Zeit liefern? Es wirkt inzwischen fast abgedroschen, wenn Kommentatoren die Fotografie für die am besten geeignete Kunstform eines technologischen Jahrhunderts achten. Die Malerei mutet uns hoffnungslos überholt an, in der Sentimentalität der Vergangenheit stecken geblieben. Malerei gleich Ironie. Wir wissen nun, dass unsere Geschichte durch die Kamera eingefangen wird, gewisse Bilder kulturell auserlesen und als Merkmale unserer Geschichte auserkoren werden. Von Lee Miller in Dachau bis Eddie Adams in den Straßen von Saigon, diese Fotos sind im kollektiven Bewusstsein Amerikas eingeschrieben. Aber was wird zu der anderen Geschichte Amerikas gesagt, zu einer genau so realen und mächtigen, aber fast ungesehenen Geschichte? Die Familien-geschichte ist noch subjektiver, der Zensur eher unterworfen als die „offiziellen“ Regierungsversionen der Ereignisse.

Welche (des)-illusionären Kunstgriffe setzt James Higginson in seinem Spiegelkabinett ein?

Mit lebensgroßen Fotos, die eine Geschichte erzählen, erzeugt Higginson eine Odyssee für den Betrachter. Der Mythos ist diesem Künstler sehr wichtig. Obwohl das frühe einundzwanzigste Jahrhundert mit postmoderner Hightech-Unterhaltung gesättigt zu sein scheint, ist das, was wir (nicht) erleben, uralt. Higginson benutzt eine (sur)realistische Bildsprache, die prekär am Rande von Alptraum und Tagesschau schwankt, und holt uns dadurch zu den atavistischen Aspekten unseres (Nicht)-Menschseins zurück. Als Menschen sind wir vollkommen entstellt. Dieses Thema der griechischen Tragödie aufnehmend, spielt Higginson auf moderne Art die grausamste aller Ereignisse wieder: Ein Athener F/X, wenn Sie so wollen, unsere ureigenen Mythen.

Higginson glaubt, ebenso wie Roland Barthes, dass Mythen immer genau so viel verbergen wie sie aufdecken, und dass diese Mythologie des einundzwanzigsten Jahrhunderts kritisch und aggressiv gelesen werden muss. Higginson eignet sich die Mediengewohnheit der Ästhetisierung der Gewalt durch Computeranimation an, er stellt den Horror so dar, als wären es die Siebenuhr-Nachrichten. Er benutzt diese Strategien und startet einen Prozess der Entmystifizierung der Nachrichten als das (Nicht-)Reale. Wenn er uns zu einer Serie
dunkler Reisen entlang verdrehter Gänge mit verzerrten und erstarrten Spiegelbildern einlädt, ist die Arbeit des Künstlers also ein durchaus politisches Anliegen.

Historisch gesehen ist das Foto-Essay immer ein viel gerühmtes Medium zur Vermittlung der Wahrheit gewesen. Obwohl es eine Erfindung der Fotozeitschriften des neunzehnten Jahrhunderts war, ist das zwanzigste Jahrhundert auch durch eine unterteilte Erzählung der aktuellen Ereignisse in einfachen narrativen Bildern und begleitenden erklärenden Texten gekennzeichnet. In den schwarzweißen sozialkritischen Fotografien wie denen von W. Eugene Smith offenbart die Bildergeschichte das ganze bescheidene und humanistische Räderwerk der Gesellschaft.

Diese mutige und oft ethische Tradition wurde von einer vollkommen beherrschten, postmodernen Generation am Spieß der eigenen Prämissen gedreht. Fotografen wie Robert Frank und Nan Goldin erkannten keine großen Wahrheiten, fällten keine Werturteile und schnappten sich Fragmente einer entfremdeten Existenz mit kalter A-Moralität auf. Postmoderner Nihilismus war einmal sehr chic. Aber eine unbeteiligte Gleichgültigkeit ist nicht das Thema von James Higginsons Arbeit. Verglichen mit seinen Vorgängern ist dieser Künstler weniger real, aber wesentlich engagierter.

Higginson agiert eher wie Jeff Wall, indem er aus einem gekonnten Pasticcio der ehemals „Kunst“ genannten Zutaten eine Nichtrealität konstruiert. Er benutzt das Format des Foto-Essays um die Schichten „der Realität” abzuschälen und das verborgene Hässliche darunter zu entblößen. So wie Leon Golub die Historienmalerei aktualisiert und Jeff Wall den Realismus wieder aufnimmt, so modernisiert Higginson die alte Idee Baudelaires vom „Maler des modernen Lebens“. Indem er die Frage nach dem „modernen Leben“ stellt, hebt er den Deckel der Petrischale des Familienlebens und stellt eine Verbindung zwischen seinen Fehlfunktionen und einer scheinbar verrückt gewordenen Welt her.

Männer und Frauen sterben, und Menschen tanzen auf den Straßen. Ein gezielter Bombenwurf reißt einem Jungen die Arme ab. Während wir zu Abend essen, sehen wir in den Abendnachrichten verhungernden Menschen zu. Baudelaire hätte vielleicht die Rolle des Flaneurs eingenommen, aber Higginson bringt den Betrachter nicht durch Spektakel auf Distanz. Auf die verborgene Tragödie des modernen Lebens hinweisend, nimmt er eine unmittelbar moralische Position ein. In voller Absicht eröffnet er dem erschrockenen Betrachter seinen Standpunkt: Dieser muss sich zwischen moralischem Agieren und einem achtlosen Vorbeigehen entscheiden. Higginsons Fotos vermitteln einem das Gefühl, an einem öffentlich begangenen Verbrechen vorbeizulaufen.

Künstler, die sich aufgefordert fühlten, die Schrecken des modernen Lebens aufzuzeigen, haben den Betrachter immer durch visuelle Einfälle in ihr Werk hineingezogen. Goya bot das Unmittelbare eines Proto-Fotojournalismus. Manet bezog sich auf bekannte kunsthistorische Vorgänger, um die Verstoßenen der Gesellschaft darzustellen. Golub hing seine abgeschabten Leinwände wie geschundenes Fleisch auf. Filmische Kampfszenen verspottend, schnitt und klebte Wall eine Collage des sinnlosen Todes. All jene Künstler haben den Hinweis „Betreten verboten“ einfach ignoriert und die Grenzen sonst abgesperrter Gebiete überschritten. Higginson für seinen Teil mustert das banlieu als emotionalen Außenposten, als Ort des Terrorismus des Familienlebens. Die Kamera bedeutet erhöhtes Bewusstsein, ein Hyper-Aufnahmegerät für die Zeit danach, einen festgelegten Bedeutungsrahmen.

Higginson erzählt uns unsere eigenen Geschichten. Das Kind erbt die Sünden des Vaters und akzeptiert die Last des Weiterreichens an den eigenen Sohn. Ein junger Mann kann ohne die ihm von den Eltern aufgezwungenen Lebensweisen nicht leben. Mann und Frau geißeln sich gegenseitig mittels ihrer Wörter. Sie schreien, sie heulen, sie schießen auf sich, sie schneiden sich die Pulsader auf. Mutig führt uns Higginson vor, dass das Familienalbum nie dafür bestimmt gewesen ist, Wahrheiten aufzuzeigen. Eine unglückliche Familie gleicht der anderen. Männer und Frauen geraten in Wut aneinander, Volksgruppen verfluchen sich gegenseitig, Nationen kämpfen um die Territorien des anderen und Kinder sterben.

James Higginson fordert uns zum Hinschauen, zum Wahrhaben und zur Betroffenheit auf.

Erbarmungslos wie Artaud, kreiert Higginson ein Theater der Grausamkeit und spielt mit krankhaftem Humor. Wie ein sadistischer Chirurg operiert er im Geiste Jeff Walls, der diese extreme Strategie der Überhöhung bei „Dead Troops Talk” anwendete, um eine Übertragung der militärischen Schrecken von Russland auf Afghanistan vorzuführen. Heute schauen wir zurück auf Walls Pasticcio des Schreckens in Afghanistan und sehen keine Geschichte, sondern eine Voraussagung. Es gibt einen Grund, die Geschichte zu dokumentieren und zu betrachten: damit sie sich nicht wiederholt. Während dies geschrieben wird, verliert sich die USA gerade in ein russisches Spiegelkabinett. Wall und Higginson arbeiten beide mit großformatigen Fotos und reproduzieren dramatische Situationen auf einer höchstrealistischen, Glaubwürdigkeit erzwingenden Art. Wir wurden gewarnt. Afghanistan war der aufgespießte Kopf, aber wir wollten ihn lieber nicht wahrhaben.

Wall und Higginson bedienen sich beide der dem Betrachter selbstverständlichen Unterstellung des Vorhandenseins einer Realität in der Fotografie, um einen Kommentar zur heutigen Welt abgeben zu können. Wall manipuliert mit Hilfe von digitalen Eingriffen, Higginson mit surrealen Special-Effects. Jeff Walls Vision ist verstreut und alles verschlingend, demgegenüber ist die von Higginson durchkomponiert und fokussiert. Seine Themen sind immer wir, ich, Du und das, was wir uns in der Privatsphäre unserer Häuser und unserer Seelen gegenseitig antun, und unsere Gesellschaft, wie sie sich eines immer frischen Vorrats an Opfern bemächtigt. Ähnlich dem Missbrauch in den Familien ist die nationale Aggression unabhängig von den Generationen, sie wird weitergereicht und wie Gift auf der Oberfläche der Gesellschaft geerbt, dunkel und unsichtbar, bis eine passende Gelegenheit ihre Macht erweckt.

Und hier liegt die Bedeutung von James Higginsons Arbeit.

Wenn wir alle Produkte einer Bilderwelt sind, Kinder einer Medienumgebung, die mit den Bildern von Tätern und Opfern groß geworden sind, wie sollten wir gezwungen werden, in den Spiegel zu schauen und uns selber in diesem Spiegelkabinett zu erkennen? Wenn Foucault recht hatte, der meinte, je mehr wir zu einem Thema sagen würden, desto weniger wüssten wir darüber Bescheid, dann hieße das, je mehr wir über Gewalt und Familienwerte sprechen, desto weniger wissen wir von uns selber. Laut Foucault initiieren wir den Diskurs, um die Realität zu verbergen. Diese Ironie ist bewusst: die Sprache ist eine Art Stummheit, die die Möglichkeiten des Geäußerten kontrolliert. Unser Gerede verbirgt unsere immense Stummheit und eine furchtbare Wahrheit, die Gewalt fängt zuhause an, und sie wird auf einer Bühne, die wir als „politisch“ würdigen und auch „Krieg“ nennen, endlos wiederholt. Der Diskurs ist also eine Art erzwungene Stummheit. Wir bereden und zerreden die Gewalt, währenddessen sie zur Institution wird, wir üben sie verbal als „Kollateral-Schaden“ aus, wir erlauben es unseren Jungen, die Gewalt im „Spiel“ mit „Aktionsfiguren“ nachzuspielen, aber wir schrecken vor der Vorstellung zurück, unsere Mädchen könnten in Leichentaschen vom Kriegsschauplatz zurückkehren.

Die Kriege fangen zuhause an. Higginson fordert uns auf, das
anzusehen, was wir unseren Kindern antun, und uns gegenseitig in unseren Beziehungen zufügen. Er verlangt von uns, dass wir eine wie fürs Fernsehen gemachte Mini-Serie anschauen: aufwühlend, herzzerreißend, völlig irre und in unserer nächsten Kunstgalerie täglich angeboten. Diese unerhörten und absurden Geschichten von uns allen sind fehl am Platze, sie sind aus dem privaten, geheimen Raum, der Agonie des menschlichen Herzens, versetzt worden. Higginson geht einen Schritt zu weit mit uns. Er zeigt uns die Ereignisse, die unerhört, anstößig, stupide und erschreckend sind. Von Qual und Pathos ausgehend, schleudert uns der Künstler in die Extreme der Hollywood-Schrecken.

Higginson lädt uns zu einem Spaziergang in einer eindeutig unsicheren und verrückten Gegend ein. Obwohl er aus Ehrlichkeit darauf besteht, sich selbst und seine Vergangenheit zur Schau zu stellen, ist es schließlich unwesentlich, ob die von ihm dekonstruierten Familiengeheimnisse seinem eigenen Leben entstammen oder nicht. Diese Geschichten gehören zu uns allen. Wir sehen uns selbst in diesen verzerrten Spiegeln. Higginson vermittelt uns die Unmöglichkeit einer Erzählung der Realität ohne eine extreme Überhöhung, die das untergründige Unterbewusstsein der Kultur aufdeckt. Er ersetzt den stillen Diskurs mit unaussprechlichen Bildern. Anscheinend übertriebene Familienfotos entpuppen sich als einfache Wahrheiten.

Könnte es sein, dass die Wahrheit grotesker ist als jede Dichtung?

 

Jeanne Willette, Dr. phil., ist Kunsthistorikerin und –autorin und lebt in Los Angeles. Sie lehrt am Otis College of Art and Design.