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DAS GEFÄß SEIN

Jeanne S.M. Willette

Betrachte das Gefäß. Die Vase ist wie du.
Sie hat einen Hals. Du hast einen Hals.
Sie hat eine Schulter. Du hast eine Schulter.
Sie hat einen Körper. Du hast einen Körper.
Sie hat einen Fuß. Du hast Füße.

Das Nichts in ihr macht die Vase aus. (J.P.Sartre)

Das Gefäß war eines der ersten Objekte, das der Mensch schuf; ein erstes „Anderes“, das er herstellte. Überlege! Wir haben unsere Ähnlichkeit mit der Vase erfasst. Betrachten wir nun das Unähnliche. Du hast einen Kopf. Die Vase hat keinen Kopf. Du hast Arme und Hände. Die Vase hat keine Hände. Sie ist etwas, das in der Hand gehalten wird. Du hast Füße. Du kannst Dich bewegen. Du bist beweglich. Die Vase hat einen Fuß. Sie steht. Die Vase hat keinen freien Willen, sie handelt nicht. Gottgleich schufen wir die Vase nach unserem Ebenbild, aber sie ist nicht wir. Das Gefäß ist eine auf das „Andere“ projizierte Verschiebung unseres Selbsts.

Die Arbeiten in Higginson’s Serie Recollection sind einzelne Fotografien von Vasen - und sind es auch nicht. In dieser Serie meditiert Higginson über die Beziehung zwischen dem Einen (uns) und dem Anderen (dem Gefäß) und das Phänomen, das beide menschlich macht: das Innenleben. Er durchforscht das Bewusstsein mittels des Anderen. Seine Untersuchung der beiden innewohnenden Menschlichkeit ist nicht eine Kritik an, sondern eher ein Engagement für die Beschaffenheit heutiger Menschlichkeit. Was ist auf der Reise in die Sackgasse der Postmoderne aus uns geworden? Higginson riskiert es, den Betrachter zwischen
elegantem Zynismus und der erfrischenden Möglichkeit des Existent-Seins wählen zu lassen. In dieser Schaffensperiode bewegt Higginson sich zwischen Erzählung und Metapher. Hier wird die Analogie zu einem Text über Bewusstsein und Gewissen, seines und das unsere. Seine Fotografie ist Metonymie.

Im ersten Segment der Serie Recollection steht die Vase fest umrissen für sich allein. Das Gefäß ist ein postmodernes Simulakrum, eine Fotografie von etwas, das nicht ist, die erhalten gebliebene Spur eines verlorenen Objekts. Der Künstler und die Vase verschleiern hier eine Unzulänglichkeit durch ein raffiniertes Dekor. Als (fotografisches) Positiv und Negativ reflektiert die Außen-Seite der Vase Fülle und Reichtum. Die Vase existiert. Die Vase existiert nicht. Der Innenraum drängt nach außen, um die äußere Form zu prägen, ein Oszillieren, das sich durch die Umrisse der Verzierungen auf der Oberfläche abzeichnet. Wie Narben eines Kampfes oder Zerklüftungen einer Rinde sind die Ornamente reine Ergänzung, unnötig, Opulenz, Überfluss. Sie sagen alles. Sie sagen nichts.

Higginson zeigt die Vase gleichzeitig als unvollständig und überdeterminiert. Wir sind die Vase. Wir sind allein. Wir sind leer und warten darauf, mit dem gefüllt zu werden, was wir gewählt haben. Die Leere, die uns ausmachte, füllt und formt uns nun. Es ist kein Zufall, dass unsere erste Leinwand der
menschliche Körper war. Wir haben ihn bemalt,
geritzt, geformt und zu einem eigenen Territorium gemacht. Die Dekorationen auf Higginsons Gefäßen sind Gestaltwandler, die das Objekt von sich selbst
trennen, die den inneren Widerspruch zwischen der dunklen Leere der Vase und ihrem üppigen Äußeren enthüllen. Wie auf Man Rays Solarisationen legt Higginson dunkle Linien um die Vasen, um Positiv und Negativ miteinander zu
verschmelzen. Diese Ornamentierung lässt uns glauben, wir seien eloquent.

Indem er die fotografische Ganzheitlichkeit verletzt, die Oberfläche der Vase vom sie umgebenden Raum trennt, verweist Higginson auf Gedanken, die über das Ding an sich hinausgehen ... Dinge, die wir benennen, aber niemals sehen. Die Vase ist
verstümmelt. Der Körper hat weder einen Kopf noch Hände oder Füße. Die Sprache ist auch
verstümmelt. Betrachten wir den Titel: Recollection (Erinnerung). Recollection ist ein verstümmeltes Wort, dem wie der Vase die Beweglichkeit fehlt. „To recollect“ , wieder-sammeln, noch einmal sammeln. Das Wort legt nahe, dass man schon etwas
gesammelt hat. Aber was? Wenn wir von „sammeln“ sprechen, meinen wir damit: Dinge zusammenbringen und anhäufen. Aber wenn wir „recollect“ sagen, meinen wir eigentlich, dass wir unsere Gedanken wieder sammeln. „Recollection“ kann sich nur auf Gedanken beziehen und wenn Gedanken wieder gesammelt werden können, können sie auch
verloren gehen. Des Weiteren könnte man sagen, dass diese Gedanken nur aus der Vergangenheit gesammelt werden können. Um sie zu finden, müssen wir unsere Spuren zurückverfolgen. Erinnerungen sind Spuren, Pfade, denen wir folgen bis sie verschwinden.

Wohin mit diesen erinnerten Gedanken? Die Vase/der Körper ist nur ein Gefäß. Wir sammeln unsere Gedanken und nennen sie „Erinnerungen“. Es scheint, als könnten wir uns nur rückwärts bewegen. Die französische Sprache bietet einen Ausweg – souvenir – ein Gedanke, der zum Objekt wird. Eine Hybride, eine Verschmelzung. Wir projizieren unsere Erinnerungen auf das souvenir. Die Vase ist das
souvenir. Unser Körper erinnert sich.

In der zweiten Sequenz der Serie führt uns Higginson an eine Auf-Lösung der „Sammlung“, der „Er-Innerung“ heran. Zu der Einen Vase kommt die Andere Vase hinzu. Aus dieser Begegnung entsteht Bewusstsein. Wir werden uns unserer selbst erst dann bewusst, wenn wir die, die-nicht-wir-sind wahrnehmen. Äußerlichkeit schafft Identität. Das Außen ist alles, was wir sehen. Das Eine und Das Andere schauen einander an. Higginson spielt mit den beiden Gefäßen, indem er ihnen den Zugang zueinander verweigert. Higginson beschneidet die Außenseiten der isolierten und getrennten Einheiten. Er zerschneidet sie. Die Vasen können nicht protestieren. Un/artikuliert starren sie stumm in die Leere. Die Leere ist der Ersatz, das Zeichen. Die Leere ist in ihnen. Die Leere ist in uns. Die Leere – der Raum – zwischen den Gefäßen fesselt den Betrachter. Die Leere ist aktiv, prägnant, lebendig, sie entfernt die beiden voneinander und trennt sie für immer. Wir sind Gefangene unseres Körpers und können keinen Kontakt aufnehmen.

In der dritten Sequenz wandelt sich die „Doppelung“ der zweiten Sequenz in eine „Gruppe“ aus mehreren Wesenheiten. Hier liegt der Schlüssel. Konfrontierte uns Higginson zuvor mit zwei „Charakteren“, die einander aus ihrer Isolation heraus betrachten, so zeigt er uns nun einen Zustand des Bewusstseins über sich selbst, des Selbstbewusstseins, der aus der Berührung durch den Anderen entsteht. Le toucher, „to touch“, berühren. Unsere erste Empfindung ist Berührung. Wir werden berührt. Wir werden be-handelt. Wir werden verkörperlicht. Langsam sammeln sich unsere Sinne. Wir werden Wissende. Dadurch, dass wir vertrieben werden. Wir werden in Bewegung gesetzt. Um uns zu schaffen, musste Gott uns berühren. Wir tragen seine/ihre Fingerabdrücke. Gott ist die größtmögliche Differenz, deren Sein körperlos ist. Unsere Wesenheit braucht einen Körper. Unsere Körper sind unsere Hüter. Wir werden wir selbst, umfangen von unserer Form. Ohne unseren Körper hat unser (Selbst-) Bewusstsein kein Gefäß. Wir beginnen jedoch, undeutlich zu werden und uns aufzulösen, wenn wir uns einander nähern, wenn wir Bewusstsein erlangen.

Higginson ist nicht an der traditionellen Körper/Geist-Dialektik interessiert. Er negiert das Prinzip des ewigen Getrenntseins, das kartesianische Denken. Letztlich lehnt Higginson als post-postmoderner Künstler solch binäres Denken ab. Die Postmoderne weicht die Spaltung, den Unterschied zwischen den Gegensätzen auf, lässt jedoch keine Lösung zu. Higginson hingegen möchte eine Lösung finden. Higginson möchte über die postmoderne (Nicht-) Lösung der oszillierenden Differenz hinaus zu einem Seinszustand jenseits der „différance“ gelangen. Was ist zwischen dem Für-sich-Sein und dem Für-den-Anderen-Sein? Nicht das Nichts. Diese Leere ist die Falle, in der der Eine vom Anderen getrennt ist. Diese Falle verdoppelt sich. Ein Geist kann nicht nach dem anderen Geist greifen. Das Gefäß ist nicht nur der Körper; es ist der Geist, in sich gehüllt, isoliert, allein gelassen mit dem fragilen Werkzeug Sprache.

Higginson weist uns einen Weg aus dieser Falle. Zwischen Innen und Außen, zwischen Leere und Form, zwischen Geist und Körper, zwischen Nichts und Sein ist das Werden. In einem Zustand ewigen Werdens werden wir weder geformt noch deformiert, sondern re-formiert. Unsere unauflösbare Dualität kann uns nicht lähmen. Wir agieren. Der Akt des Werdens akt-ualisiert uns. Wir sind, weil wir agieren. Sartre lehrte uns das. Higginson glaubt auch, dass wir re-formiert werden können. In seiner Betrachtung der „Re-Kollektion“, des „Er-Innerns“, kommt er zu dem Schluss, dass der Zwischen-Raum, der einmal war, nicht mehr ist.

In der letzten Sequenz seiner Fotoserie zerbricht Higginson die Form, unser Surrogat, unseren Ersatzkörper, um (in uns) hineinzusehen. Die „Re-Kollektionen“, die das Selbst ausmachen, werden Reflektionen des Selbsts. Bedenke ... wenn wir nur ein Außen sind, weil wir ein Innen sind, sind wir dann ein Körper, nur weil wir ein Geist sind? Wenn wir die Vergangenheit sind (Erinnerung) (Re-Kollektion), dann müssen wir auch die Zukunft sein. Im Dunkel ist Licht. Möchte Higginson uns sagen, dass wir, um mit dem Anderen Eins zu werden, das hartnäckige Konstrukt unseres Eins-Seins zerbrechen müssen? Möchte James Higginson, dass wir, um vorwärts zu kommen, die Vergangenheit auflösen und verstreuen wie überflüssig gewordene Juwelen?

Sartre sagt, wir sind frei. Wir haben die Freiheit zu handeln, uns zu schaffen und neu zu schaffen. Sind wir nicht gleichzeitig Gott und Gottes Schöpfung? Tragen wir unsere eigenen Fingerabdrücke? Wir sind der Zweifel. Wie seltsam. Wir sind zerbrochen. Dennoch ist der Raum zwischen uns gefüllt. Wie
vollkommen und göttlich schön wir sind. Wir lösen uns auf. Wir lösen etwas. Wir reformieren. Wir sind ein Paradoxon. Eine zukünftige Form voller Erinnerungen. Eine Form, die nach außen strahlt, sich aus der Zeit heraus in die Zukunft bewegt. Das Zerbrechen lässt uns nach außen strahlen. In den Fragmenten, im Licht sehen wir uns und deshalb auch die Anderen. Handeln heißt Existieren. Handeln heißt Vertrauen fassen. Ohne Hoffnung gibt es kein Vertrauen. Higginson sagt, dass wir voller Hoffnung sind, dass wir existieren, weil wir hoffen, dass Bewusstsein Hoffnung ist. Ohne Hoffnung ist alles ein dunkles Nichts – das Innere einer leeren Vase.

Wir hoffen, weil wir sterben.
Wir leben, weil wir hoffen.